1. Mai 2019 – Yvonne Feri, Nationalrätin

Es gilt das gesprochene Wort, Bild Andrin Fretz

Liebe Genossinnen und Genossen

Ich freue mich sehr, heute hier zu sein – Besten Dank für die Einladung.

Der Schweizerische Gewerkschaftsbund sagt es: Der erste Mai ist der einzig wirklich weltumspannende Feiertag. Wir wissen es, es geht um unsere Hauptbeschäftigung in unserem Alltag, es geht um die Arbeit. Und in diesem Jahr steht er unter dem Motto «Mehr zum Leben».

Was heisst «Mehr zum Leben»? Wahrscheinlich verstehen wir unterschiedliche Dinge darunter. Für mich bedeutet es, dass jede Person, die in einem Vollzeitpensum erwerbstätig ist, auch von ihrem Lohn leben kann. Es darf nicht sein, dass Steuern, Gebühren, Krankenkassenprämien, Mieten usw. alles auffressen und nichts mehr zum Leben bleibt. Wer Vollzeit arbeitet, soll auch einmal ins Kino können, ein neues Shirt kaufen oder an einem heissen Sommertag eine Glace schlecken. Er oder sie muss die Möglichkeit haben, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und dafür sowohl Geld als auch Freizeit zur Verfügung haben. Sauer werde ich bei den Working Poor: Menschen, die gegen ein 100%-Pensum bewältigen und mit diesem Verdienst nicht einmal das Existenzminimum abdecken können, sodass die Sozialhilfe einspringen muss. Wenn wir diese Situation zu Ende denken, bereichern sich damit Geschäftspersonen mit Steuergeldern. So geht das einfach nicht.

«Mehr zum Leben» bedeutet nicht zwingend Gier, Unersättlichkeit und Masslosigkeit. Habt ihr gewusst, dass sich der Gier-Wert eines Menschen messen lässt? Wissenschaftler der Universität Berkley haben in einem Experiment nachgewiesen, dass reiche Menschen gieriger sind. Sie nahmen sich mehr Täfeli aus einem Glas als weniger Wohlhabende.
Trotzdem dürfen wir auch nicht vergessen, dass Gier ein wichtiger Motivator ist. Das Streben nach der Erfüllung eines Wunsches oder einer Vision hat uns auch viele neue Errungenschaften beschert, die uns das Leben heute erleichtern. Aber übertreibt man es mit der Gier, wird sie sehr schnell zu etwas Negativem – und das gilt es zu verhindern. Mein Stichwort dazu: Masslose Managerlöhne!

«Mehr zum Leben» muss im Speziellen auch für die Frauen gelten. Damit meine ich, dass ihnen mehr Zeit und mehr Geld zur Verfügung stehen sollte für die Bewältigung ihrer Mehrfachaufgaben. Nach wie vor sind es immer noch die Frauen, die zwei Drittel aller unbezahlten Arbeit erledigen, wie Haushalt, Kinder erziehen oder Pflegetätigkeiten innerhalb der Familien. Und genau deshalb sind Frauen häufig nur in Teilzeitpensen erwerbstätig. Und Teilzeitarbeit bedeutet leider immer noch meist niedrige Löhne, schlechte Altersvorsorge, und weniger Karrieremöglichkeiten.
Nach wie vor ist es auch so, dass Frauen für die gleiche Arbeit zwischen 12 und 20% weniger verdienen als Männer. Auf welchen Prozentwert man kommt, mag von der Messmethode abhängig sein, aber das Resultat bleibt das gleiche. Es ist deutlich weniger! Dies hat auch zur Folge, dass Frauen im Rentenalter durchschnittlich 37% weniger Geld zur Verfügung haben. Dies ist umso bedenklicher, weil mehr pensionierte Frauen in Einzelhaushalten leben als Männer und somit die Alltagskosten auch höher sind.

«Frauen haben weniger Geld, weniger Zeit und weniger Anerkennung für die Arbeit, die sie leisten. Das muss sich ändern, die Politik soll endlich handeln! Deshalb rufen wir zum Frauenstreik am 14. Juni 2019 auf.» Das, der Slogan zum Frauenstreiktag.

Und auch wenn grosse Firmen in der Schweiz das Streiken verbieten und der Professor für Arbeitsrecht der Universität St. Gallen darauf hinweist, dass es eigentlich gar kein Streik ist, weil er sich nicht gegen einen Arbeitgeber richtet und nicht das Ziel hat, eine kollektive Regelung im Gesamtarbeitsvertrag zu finden. Er bezeichnet den Frauenstreik eher als Meinungsäusserung. Aber egal was es ist und wie wir es bezeichnen, es ist an der Zeit, dass die Frauen sich wieder wehren, zeigen, welche Leistung sie tagtäglich erbringen und darauf bestehen, dass ihre Arbeit den gleichen Wert hat wie diejenige der männlichen Mitarbeiter. Nur wenn Frauen sicht- und hörbar für ihre Anliegen einstehen, ändert sich auch etwas und Erreichtes können wir bewahren.

Deshalb fordere ich euch alle dazu auf – Männer und Frauen – am 14. Juni ein Zeichen zu setzen und für die Gleichstellung aller Geschlechter einzustehen. Es ist endlich an der Zeit, dass diese in den Köpfen aller Menschen ankommt und zur Selbstverständlichkeit wird!

«Mehr zum Leben» wünschen sich auch Sozialhilfeempfängerinnen und Sozialhilfeempfänger. Leider stimmt der Kanton Bern am 19. Mai über die Kürzung der Sozialhilfe ab – dem Aargau stehen diese Diskussionen noch bevor. Der Grundbedarf für den Lebensunterhalt soll zwischen 8 und 30% gekürzt werden. Stellt euch vor, wie es wäre, wenn ihr plötzlich so viel weniger für euren Lebensunterhalt zur Verfügung hättet? Die Sozialhilfe erlaubt bereits heute kein luxuriöses Leben, sondern sie bedeutet rechnen und einteilen, Tag für Tag. Die Sozialhilfe ist heute schon knapp bemessen und eine weitere Kürzung ist menschenunwürdig.

Sozialhilfebezügerinnen und -bezüger sind nicht hauptsächlich Betrüger und Schmarotzerinnen. Nein. Die grosse Mehrheit dieser Menschen verhält sich korrekt und kooperativ, möchte wieder arbeiten. Kommt dazu, dass ein Drittel der betroffenen Personen Kinder ist. Eine grosse Gruppe machen auch Einelternfamilien aus, sowie Familien mit mehr als drei Kindern. Wer sonst soll für Menschen da sein, die von der Arbeitslosenversicherung ausgesteuert werden und keine Stelle mehr finden? Die Sozialhilfe hat die Aufgabe, eine gesellschaftliche Ausgrenzung und eine Verelendung zu verhindern. Im besten Fall ermöglicht sie sogar Hilfe zur Selbsthilfe und bietet Unterstützung bei der Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt. Und vor allem: Sozialhilfe soll auch das gesellschaftliche Leben ermöglichen, nicht eine Separation fördern. Ganz schwierig in unserem Land mit wenig finanziellen Mitteln.
Glückicherweise gibt es einen Gegenvorschlag zu den geplanten Kürzungen in Bern. Er verlangt, dass die Armut und nicht die Armen bekämpft werden – genau das Richtige! Die Sozialhilfequote soll gesenkt werden, unter anderem durch mehr Arbeitsplätze und Weiterbildungsangebote und nicht durch Beitragskürzungen. Und er verlangt einen respektvollen Umgang im Alter. Wer nach dem Erreichen des 55. Altersjahrs arbeitslos wird, soll nicht mehr auf dem Sozialamt landen, sondern Ergänzungsleitungen erhalten.

Die am stärksten wachsende Gruppe in der Sozialhilfe sind übrigens Personen über 55 Jahre. Der Arbeitsmarkt will diese Menschen nicht mehr, obwohl sie über viele Jahre Erfahrung verfügen und gut qualifiziert sind.

Deshalb: «Mehr zum Leben» wünsche ich mir auch für ältere Menschen. Dafür braucht die AHV in den nächsten Jahren dringend mehr Geld und eine Reform! Hier wird auch immer wieder die Erhöhung des Rentenalters diskutiert – nicht nur für Frauen. Aber es ist leider eine Tatsache, dass es für ältere Arbeitnehmende schwierig bis unmöglich ist, nach einem Stellenverlust eine neue Arbeit zu finden. Und nach dem Erreichen des Rentenalters bleibt für viele Menschen auch heute noch, insbesondere für Frauen, die AHV der wichtigste Einkommensbestandteil.

«Mehr zum Leben» soll uns nicht nur an diesem Tag begleiten. Beschränken wir unser Engagement nicht nur auf den 1. Mai, sondern stehen auch im Alltag dafür ein. Vielleicht gibt es im direkten Umfeld Menschen, die ein offenes Ohr brauchen? «Mehr zum Leben» muss sich nicht auf die materielle Ebene beschränken.

Schliessen will ich nicht mit dem Slogan «Mehr zum Leben», sondern mit den Worten «Mehr vom Leben». Heute wollen wir trotz allen ernsten Themen und schwierigen gesellschaftlichen Fragen ein bisschen mehr vom Leben als an einem gewöhnlichen Mittwoch. Der 1. Mai ist auch eine gute Gelegenheit ein paar Worte mit Menschen zu wechseln, die uns durchs Jahr nicht so oft begegnen. Oder auch, um mit Arbeitskolleginnen und -kollegen zusammenzusitzen und über Themen zu reden, die nicht die Arbeit betreffen. Geniessen wir diesen Moment und das gesellige Beisammensein!

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  • FERI Mit-Wirkung

    Staat und Wirtschaft werden oft als Konkurrenten dargestellt. Doch beide brauchen einander und wir brauchen beides: einen starken Staat und eine prosperierende Wirtschaft! Als Nationalrätin setze ich mich dafür ein, dass Staat und Wirtschaft die Verantwortung dafür teilen, dass die Bevölkerung gut und selbstbestimmt leben kann. Der Staat soll Anreize für die Wirtschaft setzen, sich sozial und ökologisch zu engagieren. Die Wirtschaft ist aufgefordert, Krippen anzubieten, nachhaltig mit Ressourcen umzugehen, junge Menschen auszubilden, Teilzeitstellen zu schaffen, Stellen für sozial Schwächere anzubieten und Personen mit einem Handicap zu beschäftigen. Und zwar so, dass es für alle Beteiligten Sinn macht. Hier geht es zu meiner beruflichen Tätigkeit, der Einzelfirma FERI Mit-Wirkung.

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